Einer der wichtigsten Schreibtipps lautet: Figuren brauchen ein Motiv. Das „Warum“ bestimmt das „Wie“. Nur so können Leser*innen nachvollziehen, warum Protagonist*innen ein bestimmtes Ziel verfolgen. Oder was die Antagonist*innen zu einer echten Bedrohung macht. Figuren ohne Motiv wirken dagegen passiv, wie ein Blatt im Wind, und blass. Suchen wir nach einer Motivation für unsere Charaktere, gibt es verschiedene Herangehensweise, um sie auszudefinieren und in der Story anzuwenden.
Die Motivation einer Figur bestimmt den Konflikt
Hinter jeder Geschichte steht ein/e Protagonist*in mit bestimmten Zielen, Wünschen und Antrieben. Ihre oder seine Motivation bestimmt das ganze Verhalten und die Handlungen. Wenn nicht klar ist, warum die Figur etwas tut – oder eben auch nicht -, wissen wir auch nicht, wer sie ist. Dann ist es schwer nachzuempfinden, aus welchen Gefühlen oder Gedanken heraus sie agiert – und im schlimmsten Fall erscheinen sie uns unglaubwürdig, blass oder schlecht ausgearbeitet. Eine glaubhafte Figur handelt aus einer Motivation heraus und lässt sich nicht nur von der Geschichte treiben. Im Gegenteil: Die Motivation einer Figur bestimmt den Konflikt der Geschichte. Sie ist nicht nur passiver Mitfahrer, sondern tritt aktiv in Erscheinung, besitzt einen nachvollziehbaren Grund für ihre Aktivitäten.
Eine nachvollziehbare Motivation entsteht, wenn ein externes Problem auftritt, das die Figur lösen muss. Sehen wir uns ein bekanntes Märchen als einfaches Beispiel an: Hänsel und Gretel. Die beiden Geschwister stehen vor dem Problem, ganz allein im Wald ausgesetzt zu sein. Ihr Ziel: den Weg zurück nach Hause zu finden. Sie scheitern daran, den ausgestreuten Brotkrummen zu folgen, da diese von Vögeln aufgefressen worden sind. Also verirren sie sich und landen im Haus der Hexe. Schnell setzen sie ein neues, dringlicheres Ziel, nämlich das des Überlebens. Nur indem sie aktiv werden, schaffen sie es, die Hexe zu besiegen. Wären Hänsel und Gretel passive Figuren ohne die Motivation hinter ihren Handlungen, zurück nach Hause zu finden, hätten sie das Märchen wahrscheinlich nicht überlebt. Dann wäre die Stiefmutter mit ihrem Plan, die Kinder loszuwerden, schon vorher erfolgreich gewesen.
Andere Motivationen, die tiefer gehen und sich nicht rein auf externe Probleme beziehen, sind noch spannender. Rache wäre zum Beispiel ein solches Motiv, das zugleich einen düsteren Zug mit sich bringt. Oder der Wunsch, der Armut zu entkommen und aufzusteigen. Oder die Suche nach der eigenen Identität, weil die Figur sich dort, wo sie sich momentan befindet, fehl am Platze fühlt. Genauso wie im echten Leben haben auch fiktive Figuren ganz unterschiedliche Motivationen. Besonders wichtig ist es, die Motivation der/des Antagonist*in dabei nicht zu vergessen.
Hier gibt es eine interessante Liste (allerdings auf Englisch) mit möglichen Charaktermotivationen.
Von essentiellen Bedürfnissen zur Figur, die über sich hinauswächst
Eine Möglichkeit, die Figurenmotivation zu unterteilen, stellt die Maslowsche Bedürfnishierarchie dar, auch als Bedürfnispyramide bekannt. Sie gruppiert die Bedürfnisse grob und ordnet sie über- beziehungsweise untereinander an. Demnach kann sich eine Person erst dem Motiv auf der nächsthöheren Stufe zuwenden, wenn sie diejenigen auf den vorherigen Stufen erfüllt hat. Ein einfaches Beispiel: Eine Person wird sich erst um die Befriedigung der existenziellen Bedürfnisse kümmern, bevor sie sich um ihre Sicherheit sorgt. Andersherum dargestellt verlässt eine Figur, die sich inmitten einer Zombie-Apokalypse befindet und in einem sicheren Versteck hockt, diese Sicherheit, sobald es die physiologischen Bedürfnisse notwendig machen. Sie muss sich auf die Suche nach Wasser und Nahrung begeben.
STUFE 1: Grund- und Existenzbedürfnisse (Physiologische Bedürfnisse)
Fundament der Pyramide bilden die Bedürfnisse nach Nahrung, Wasser, Wärme oder Schlaf. Sie sind zum Überleben notwendig und werden sie nicht erfüllt, tritt der Tod ein.
STUFE 2: Sicherheitsbedürfnisse
Sind die Existenzbedürfnisse erfüllt, suchen Menschen nach langfristiger Sicherheit, in Form von finanzieller, sozialer oder emotionaler Sicherheit, Gesundheit, Wohlbefinden und einem angstfreien Leben.
STUFE 3: Sozialbedürfnisse
Die sozialen Bedürfnisse umfassen sowohl den Wunsch nach Intimität, Vertrauen und Akzeptanz als auch den nach Liebe und Zuneigung. Die Person möchte soziale Beziehungen erleben, in Freundschaft wie in Partnerschaft oder Familie.
STUFE 4: Individualbedürfnisse (Anerkennung und Wertschätzung)
Menschen streben nach mentaler Stärke, Erfolg und Freiheit. Das sind Komponenten, die sie von anderen unabhängig machen. Zugleich streben sie aber auch nach Wertschätzung, Ansehen und Prestige, das ihnen nur ihr Umfeld geben kann.
STUFE 5: Selbstverwirklichung
Sind die grundlegenden Bedürfnisse erfüllt, kann der Wunsch nach Selbstverwirklichung eigener Talente und Interessen in den Fokus rücken. Jeder Mensch will sein volles Potential entfalten, um sich selbst und seine Fähigkeiten weiterzuentwickeln.
Mögliche Figurenmotivationen
Wir sollten uns immer wieder nach der Motivation einer Figur fragen, Szene für Szene. Handelt sie unglaubwürdig oder nicht nachvollziehbar, können sich Leser*innen nicht länger mit ihr identifizieren und verlieren die wertvolle Verbindung, die sie bereits über die Geschichte hinweg aufgebaut haben. Deshalb sollte sich die Figur aktiv (aus einer Motivation heraus!) am Geschehen beteiligen. Natürlich ist es im echten Leben selten so, dass eine Person ständig ein Ziel verfolgt oder nur Dinge aus einem Grund heraus tut, und es hat auch seinen Reiz, über solche Charaktere zu schreiben, die sich nur treiben lassen und passiv sind. Allerdings sollte auch hinter dieser Vorgehensweise ein Grund, eine tiefere Bedeutung liegen (Beispiel: die Figur hat einen schweren Schicksalsschlag hinter sich), da Leser*innen ansonsten schnell die Bindung und das Interesse verlieren.
Ein Motiv, das oft in Geschichten eingesetzt wird, ist das des reinen Überlebens. Solche Geschichten können sehr spannend und actiongeladen sein, in ihnen liegt allerdings auch die Gefahr flacher Charaktere. Das Geschehen ist sehr von außen gesteuert, von den äußeren Umständen, die auf eine Figur einwirken. Sie bringen diese in Gefahr, woraufhin sie erst ums Überleben kämpfen muss. Charaktere, mit denen wir uns identifizieren können und hinter denen eine Geschichte steckt, sollten aber ausgearbeiteter sein und neben dem Überlebenswillen auch eigene Ziele verfolgen und Wünsche besitzen.
Ein interessanter Ansatz ist es, der Figur widersprüchliche Wünsche mit auf den Weg zu geben. Das steigert nicht nur das Konfliktpotential innerhalb der Handlung, sondern auch innerhalb der Figur und ihrer Persönlichkeitsentwicklung selbst. Beispielsweise könnte eine Prostituierte den Wunsch nach finanzieller Freiheit ebenso hegen wie den nach Liebe und Geborgenheit. Oder ein Sohn will seinen Vater stolz machen, während es eigentlich sein innigster Wunsch ist, ein Barde zu werden – was der Vater für Zeitverschwendung hält.
Die Vorteile konkreter Ziele
Nun ist es das eine, wenn wir als Autor*innen ungefähr wissen, welches Motiv eine Figur mit sich trägt und was ihre Ziele sind. Diese müssen dann aber auch so in das Manuskript transportiert werden, dass Leser*innen unmissverständlich wissen: Die Assassinin will den König um jeden Preis töten, um ihre Gefährt*innen zu schützen! Wir neigen gerne dazu, uns in Mysterien zu hüllen und solche wichtigen Punkte im Verborgenen zu halten. Oder die Assassinin selbst nicht recht an ihr Vorhaben glauben zu lassen, denn eigentlich will sie das ja gar nicht … Dann muss aber klar sein, was sie stattdessen will und warum das mit der Ermordung in Konflikt stehen würde. In jedem Fall gilt: Das Ziel einer Figur muss kommuniziert und den Leser*innen präsentiert werden. Dabei ist es am besten, wenn es so konkret wie möglich ist und mit Emotionen gefüllt, sodass jeder daran glaubt. Und wenn wir uns nicht sicher sind, ob jetzt wirklich rüberkommt, was Sache ist, hilft es im Zweifel, die Figur das Ziel einmal klipp und klar aussprechen zu lassen.
Antagonist*innen und Protagonist*innen
Das trifft auch auf die/den Antagonist*in zu. Als der Gegenpart des Helden oder der Heldin sollte er/sie konkrete Ziele und ein eigenes Motiv haben, um überhaupt als Bedrohung wahrgenommen zu werden. Oder als mehr als eine gestaltlose Instanz, die den Held*innen aus irgendeinem Grund etwas Böses will. Hier ein paar Beispiele für typisch antagonistische Motive:
- Die Macht über etwas oder jemanden erlangen,
- um die Bedrohung durch eine andere Person zu beseitigen, bevor diese die Macht erlangt.
- zum Besten des oder der anderen.
- um von anderen akzeptiert zu werden und zu einer Gruppe dazuzugehören.
- um den eigenen Wert zu beweisen.
- Rache nehmen,
- um verlorene Macht oder Ansehen wiederherzustellen.
- um geschehenes Unrecht zu vergelten, da die Figur andernfalls nicht nach vorne blicken kann.
- (Finanziellen) Profit aus etwas zu schlagen, ungeachtet der moralischen Folgen,
- um ein Gefühl der (finanziellen) Sicherheit zu erlangen, weil die Figur beispielsweise in sehr armen Verhältnissen aufgewachsen ist.
- weil die Empathie zu anderen Menschen fehlt und es einfacher ist, sie allein aufgrund ihres Wertes zu betrachten.
- um ein besonderes Talent auszuleben, sich herauszufordern und Selbstverwirklichung zu erfahren.
Allein diese drei Beispiele können für jeden Unterpunkt aber auch für einen Protagonisten oder eine Protagonistin umgedreht und angewendet werden. Das zeigt, dass Antagonisten und Antagonistinnen durchaus auch protagonistische Motive tragen können, die sie aus den richtigen Gründen das Falsche tun lassen. Welches Motiv passend ist, kommt stark auf die Figur und ihre Charakterisierung selbst an. Sie sollte in sich stimmig sein, in Hintergrundgeschichte, Persönlichkeit und Motiv, und ein komplexes Bild ergeben.
Weiterführende Links:
Ein cooles Tool zum Plotten mit vielen Punkten zur Charakterentwicklung ist Beemgee
Eine Liste möglicher Charaktermotivationen im „Character Motivation Thesaurus“
„How to Uncover Your Character’s Motivation“ von E. M. Welsh